Sie verantworteten Millionenbudgets und wurden von Agenturen hofiert: Marketingleiter namhafter Konzerne. Heute sind sie ihre eigenen Chefs in neu gegründeten Agenturen. Mehr als nur ein Seitenwechsel.
Er fährt mit der U-Bahn zur Arbeit. Kein Vorzimmer, keine Sekretärin mehr, die Termine koordiniert und Geschäftsreisen vorbereitet. Auch den Kaffee kocht er jetzt selbst. Noch vor zwei Jahren umsorgte ihn die Dresdner Bank als Leiter für Strategisches Marketing & Brand Experience mit den Annehmlichkeiten einer Führungsposition. Heute ist Hans-Ulrich Cyriax Kleinunternehmer: Gründer und Geschäftsführer der Cyriax Strategie- Markenberatung, Hamburg. Nicht nur ein Seitenwechsel. Auch ein Kulturwechsel. Raus aus dem Top-Management eines Konzerns und der Verantwortung für Millionenetats – hinein in die Selbstständigkeit und die Rolle des Dienstleisters.
Passiert öfter als man glaubt. Immer wieder tauschen Marketingbosse ihre gut situierten Posten gegen das Dasein als eigener Chef. In der Szene, die sie gestern hofierte, wagen sie mit ihren Agenturen einen Neuanfang. Ihr Trumpf: Kontakte in die Führungszirkel der Wirtschaft und das Wissen um Entscheidungswege. „Die beste Idee zu haben, reicht nicht“, weiß Martin Hildwein. „Kreation muss in die Policy des Marketings passen und durchsetzbar sein im Unternehmen.“ Hildwein arbeitete acht Jahre in Konzernetagen, erst bei Daimler, danach bei Sixt, bevor er ins Agenturleben startete. Neon, 2007 gegründet, versteht sich als Adresse für effiziente und nachhaltige Markenwerbung. „Unser Ziel sind präzise und schlagkräftige Kampagnen“, so Hildwein, „und eine Wirkung, die über ein kurzes Strohfeuer hinausgeht.“ Gefragt ist vor allem sein strategisches Know-how. „Entscheider schätzen eine zweite Meinung“, beobachtet der 39-Jährige. „Mein beruflicher Werdegang kommt mir da vielleicht zugute.“
Das Gleiche erlebt Thomas Vetter. „Mein Gegenüber im Konzern weiß: Ich kenne den Job, den er macht.“ Der Wahl-Frankfurter war fünf Jahre Manager bei Procter & Gamble: Einstieg im Key Account, dann Trade Marketing, schließlich Brand Management. „Da wollte ich hin“, berichtet Vetter„Aber ich wollte auch mein eigenes Ding machen.“ In der Brand Company macht er das. Seine Agentur betreut Kunden wie Pfizer und O2 in Markenführung und -inszenierung. „Die berufliche Bedeutung ist viel kleiner als zu P&G-Zeiten“, räumt er ein. „Aber der Stolz auf das, was man aus eigener Kraft auf die Beine stellt, ist weit größer.“
Die Geltung von einst: perdu. Das Telefon klingelt seltener, die Leute stehen nicht mehr Schlange für ein Geschäftsessen, die Einladungen zu Veranstaltungen werden übersichtlicher. „Im Management eines Konzerns ist das bloß geborgtes Ansehen“, sagt Cyriax nüchtern. Wer das falsch einschätzt, hat spätestens nach dem Ausscheiden ein Problem. Cyriax’ Selbstbild litt nicht. Als die Dresdner in der Commerzbank aufging, heuerte er als Geschäftsführer bei der PR-Agentur A&B One an. Ein Gastspiel, das nur wenige Monate währte. „Im Nachhinein wohl ein notwendiger Umweg, um herauszufinden, was ich nicht will“, denkt der 44-Jährige. Er hob stattdessen seine Markenberatung aus der Taufe. Die Idee: „Auftraggeber zu befähigen, dass sie selbst Teil der Lösung werden“, so Cyriax. „Der Kunde nämlich kennt das Beziehungsgeflecht im Unternehmen, das es zu nutzen, nicht zu überwinden gilt.“ Den Ansatz verdankt er seinen Erfahrungen bei der Dresdner Bank.
Der Aufbau einer Agentur ist für die Ehemaligen der Konzernetagen Neuland. Und nicht frei von Untiefen. „In den ersten Monaten kamen mir manchmal Zweifel“, bekennt Michaela Schneider-Mestrom. Fast neun Jahre war sie Marketing- und PR-Leiterin bei Gruner + Jahr. Dann der Neubeginn in einer alten Zigarettenfabrik in Hamburg-Winterhude, gemeinsam mit ihrem Mann: Manfred Schneider, kein Unbekannter unter Werbern, Ex-Creative-Director bei TBWA. Doch es ließ sich zäh an für die Agentur Schneiders . „Wir sind mitten in der Wirtschaftskrise gestartet“, erklärt sie. Selbst ehemalige G+J-Kunden winkten ab. „Das war enttäuschend“, gibt Schneider-Mestrom zu, „gerade in der anfänglichen Euphorie.“ Heute läuft das Geschäft, aber: „Unter unseren Auftraggebern ist kein einziger aus G+J-Zeiten.“
Wehmut überkommt keinen der Ex-Marketingchefs. „Eigentlich“, so Hans-Ulrich Cyriax, „hätte ich den Schritt schon viel früher machen sollen.“
Cyriax Strategie- und Markenberatung
Gründungsjahr: 2011. Als Marketingchef der Dresdner Bank residierte Hans-Ulrich Cyriax im noblen Fürstenhof zu Frankfurt. Heute sitzt er in einem Kontorhaus-Loft nahe der Hamburger Speicherstadt und kocht sich den Kaffee selbst. Gemeinsam mit Kompagnon Nick Dunn versucht er, „Markenexpertise mit der Kenntnis über Konzernstrukturen zu vereinen“. Kunden: u.a. TÜV Nord, KfW, Hannover Rück.
Autor: Martin Bell, W&V
Veröffentlicht in Ausgabe vom 15.09.2011