Die werbetreibende Wirtschaft beschreibt sich gerne als Keimzelle von Kreativität. Da ist die Rede von Kreativagenturen, Kreativdirektoren, Kreativitätstechniken oder kreativer Werbung. Kreativität in der Unternehmensberatungen hingegen? – das scheint auf den ersten Blick ein Widerspruch. Denn Consultants geht der Ruf voraus, sich vornehmlich rationalen Kategorien verschrieben zu haben, deren modus operandi im restrukturieren, optimieren, mergen oder akquirieren liegt.
Von Hans-Ulrich Cyriax, erschienen in „Die Welt“, Oktober 2004
Der Widerspruch ist leicht zu lösen – es gibt ihn nämlich nicht. Kreativität lässt sich nicht auf bestimmte Berufsgruppen beschränken. Kreative Ergebnisse können theoretisch von jedem erbracht werden und Beratung von Unternehmen ist ohne Kreativität schlicht undenkbar. Was aber ist Kreativität überhaupt? Vielen Definitionsversuchen ist gemeinsam, dass sie das Auffinden von neuen, ungewöhnlichen, Aufsehen erregenden oder originellen Lösungsmöglichkeiten für verschiedenartige Probleme in den Mittelpunkt stellen. Oder wie John E. Drevdahl bereits 1956 konstatierte, ist Kreativität „die Fähigkeit des Menschen, Denkergebnisse beliebiger Art hervorzubringen, die im wesentlichen neu sind und demjenigen, der sie hervorgebracht hat, vorher unbekannt waren.“ Kreativität ist also eine Art Geisteshaltung, die im Beratungsalltag zwingend notwendig ist, jedoch um eine prozesshafte Komponente ergänzt werden muss. Denn Kreativität ist nicht „gottgegeben“, sondern eine Kombination aus Fähigkeiten, Fertigkeiten und bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen. Edward de Bono, eine der weltweit anerkannten Kapazitäten zum Thema Kreativität, bezeichnet diese Fähigkeiten als „laterales Denken“, als Bereitschaft, die Dinge von unterschiedlichen Standpunkten aus zu betrachten. Neues entsteht demnach nur, wenn ausgetretene Pfade verlassen werden, wenn ein Wechsel im Prozessmuster gelingt. Ein plakatives Beispiel dafür liefert der Leistungssport: Im Hochsprung war über viele Jahre das vorwärts-seitliche Überspringen der Latte die vorherrschende Technik. Bis 1968 der Prozessmusterwechsel und damit eine Sensation gelang, als Richard Douglas Fosbury bei den Olympischen Spielen erstmals rücklings über die Weltrekordhöhe von 2,29 m sprang. Mag der Fosbury-Flop heute die gängige Hochsprungpraxis sein, damals war er mutige und gleichsam kreative Innovation.
Der „Fosbury-Effekt“ ist der Maßstab für Unternehmensberatungen, die für ihre Kunden wirklich nachhaltig Wert schaffen wollen. Dabei sind sie auf Kreativität angewiesen und fördern deshalb das schöpferische Chaos, das Infragestellen von Bestehenden, sowie die Flexibilität im Denken und Handeln. Bei der Suche nach neuen Lösungen geht es darum, sich „gelegentlich dumm zu stellen“, unbekannte Wege zu beschreiten, Querdenker zu akzeptieren, unkonventionelle Lösungen spielerisch auszuprobieren sowie Freiräume für Phantasien zuzulassen. „Do it, try it, fix it“ oder zu gut deutsch „Probieren geht über studieren“ – das bedeutet sowohl für den Beratungs- wie den Unternehmensalltag, dass Kreativität vor allem das Experiment braucht und im Ergebnis darwinistischen Prinzipien folgt. Denn nur wer viel ausprobiert und die richtigen Fehler macht, wird aus Kreativität auch wirtschaftlichen Erfolg ziehen. Das Problem auf Unternehmensseite ist jedoch häufig, dass Kreativität immer auch ein Angriff auf das Etablierte ist, bei dem traditionelle, verkrustete Denkstrukturen sowie organisatorische Trägheit Neuorientierungen, Wandel und die Akzeptanz von Optimierungsansätzen verhindern. Entscheidendes Argument ist jedoch, dass nicht die gute Idee per se zählt, sondern das aus ihr resultierende Verbesserungspotential. Im Prozess der Ideenfindung sind deshalb neben dem intuitiven Denken vor allem auch die Analyse von Denkergebnissen sowie ein systematisches Vorgehen von großer Bedeutung.
Alles entscheidende Voraussetzung für Kreativität in Beratungsunternehmen sind jedoch immer Beraterpersönlichkeiten, denen gemeinsam ist, das Unmögliche zu versuchen, damit das Mögliche entsteht.