Im Flagship-Store von Apple am Hamburger Jungferstieg ist hautnah zu erleben, wie aus dem Marktingversprechen der Kultmarke ein Vertriebserlebnis wird. Eine junge Promotionfrau fragt schon am Eingangsportal nach Wünschen und Interessen der Kunden, winkt einen hippen Verkäufer mit Rastahaaren und Ziegenbärtchen herbei („Hi ich bin der Ivo“) und los geht die Verkaufsshow. Es ist eine moderne Butterfahrt. Auf „Du und Du“ mit der Marke. Die Heizdecke heißt heute MacBook oder iPhone. Vertrieb „Made by Apple“ ist mehr ist als nur die „Absatzschiene“. Der Kunde bekommt ein idealisiertes Markenerlebnis geboten, das an seine Lebenswelt andockt. Die Marke wird „vorgeführt“. Ausprobieren ist angesagt. Der Kunde soll anfassen, selber machen, erleben. Der Verkäufer ist sein Coach, er integriert den Kunden in den Verkauf. Zu keinem Zeitpunkt ist er allein, oder fühlt sich nur so. Er wird Teil der Marke und genießt die nahtlose Reise zwischen Markenversprechen und Markenerlebnis. Das hat seinen Preis. Doch Premiumprodukte, Premiumbehandlung und Premiumgefühle kosten eben etwas mehr.
Das Gegenbeispiel liefert aktuell der Mobilfunkanbieter O2. Werbeclaim: „O2 can do“. Soll heißen, der Mobilfunker mit den aufsteigenden Wasserbläschen ist ein Macher. Alles funktioniert. Aktuell wirbt das Unternehmen mit einer großangelegten Kampagne für Smartphones. Der Absatz brummt. Doch Datenverbindungen sind langsam, brechen zusammen oder es besteht überhaupt kein Netzempfang. Ergebnis: Kunden starten zum Kollektivprotest. Dabei ist das Problem eher hausgemacht. Die Netzinfrastruktur von O2 ist dem Ansturm schlicht nicht gewachsen. Zum Schaden der Marke. Denn ein Versprechen muss man halten. Eine bessere Koordination von Produktentwicklung, Prozessmanagement, Markenführung, Marketing und Vertrieb hätte das Desaster vermutlich verhindert. Oder haben die Vertriebsverantwortlichen, wissend um die Netzprobleme, den Kundenfrust zugunsten einer kurzfristig hochgepushten Absatzmarge billigend in Kauf genommen?
Alltag heute: Vertrieb als „Erntemaschine“ der Markenkommunikation
Der Erfolg einer Markenstrategie ist ablesbar vor allem im Vertrieb. Was die Marke „verspricht“ soll das Produkt einlösen. Die Brücke dazwischen baut der Vertrieb. Er ist Repräsentant und Zugpferd der Marke. Er ist das Gesicht zum Kunden. Er ist dort „wo es wehtut“ und bündelt den Erfahrungsschatz zu den Wünschen und Bedürfnissen der Kunden. Diesen gilt es für die Marke besser zu nutzen. Denn das erste wirkliche Markenerlebnis ist meist ein Vertriebserlebnis. Oft hakt es jedoch genau dort, bleiben die Markenversprechen im Verkauf auf der Strecke. Denn viele Unternehmen sehen im Vertrieb nur die „Erntemaschine“ der Markenkommunikation. Nach der Aussaat von Markenbotschaften soll er lediglich die Kunden einsammeln und schlicht Absatz machen. Oder er muss die „Kastanien aus dem Feuer holen“. Heißt: Er springt ein, wenn das Marketing versagt, startet „Push-Aktionen“, wenn der „Pull“ nicht gelingt. Der Ernteerfolg bleibt nach diesen Methoden jedoch zusehends aus. Längst steht fest: Der funktionale Dreiklang aus Produkt, Kommunikation und Absatz ist ein Relikt aus Zeiten produktorientierter Märkte, als die Transaktion vor der Beziehung stand. Heute muss sich ein Unternehmen mit seinen Marken und Produkten als „Corporate Brand“ behaupten. Marken verkaufen heute nicht nur Produkte. Sie verstehen die Lebenswelt ihrer Kunden und bieten mehr als funktionalen Nutzen. Heute muss die Marke auch zur Persönlichkeit des Kunden passen und mit seinem sozialen Umfeld korrespondieren. Heute gestalten Marken Beziehungen. Eine Herausforderung auch für den Vertrieb. Vertriebsschulungen, die nur den Absatz ankurbeln sollen und auf „Vertriebsdruck“ setzen, sind dafür allerdings das falsche Rezept.
Interne Grabenkämpfe zwischen strategischen und operativen Bereichen
Übliche Strategien, die Seele der Marke in der Produktentwicklung oder im Vertrieb zu aktivieren, setzen auf eindimensionale Erklärseminare. Meist starten Manager der Markenführungsabteilung so genannte Brand Engagement Programme, in denen sie die Werte der Marke erklären und für das Tagesgeschäft anwendbar machen wollen. Selten jedoch funktioniert das große Befähigungsbuhei. Die Strategie und Positionierung der Marke für die Produkt- oder Vertriebsstrategie nutzbar zu machen, misslingt meist schon an internen Grabenkämpfen zwischen strategischen und operativen Unternehmensbereichen. Ob Unternehmenskommunikation, Markenführung, Marketing, Vertrieb oder Produktentwicklung – jedes unternehmensinterne „Silo“ beharrt auf seinem spezifischen Wertschöpfungsbeitrag zur Umsetzung der Markenstrategie. Nicht selten entsteht ein Wildwuchs aus Aktivitäten, die nachträglich über „360-Grad-Orchestrierungen“ gebändigt werden sollen. Das ist der falsche Weg. Denn die Synchronisierung der Aktivitäten scheitert meist schon an der Spezialisierung der Fachbereiche sowie der Aufrechterhaltung interner Machtbalancen. Spezifische Erkenntnisse aus Kundenbefragungen, Verkaufsgesprächen oder Kundenfeedbacks verschwinden oft genug in den Schubladen der „Silos“. Manager aus Marketing, Vertrieb oder der nachgelagerter Kundenbetreuung (After Sales) verwenden ihr Fachwissen oft genug als „strategische Waffe“ für den Kleinkrieg der Abeilungen. Die Ursachen für die Abschottung der Bereiche liegen oft bereits in der Struktur und Kultur der Unternehmen begründet. Wenn sich Vorstandsbereiche funktional abgrenzen und nicht selten auch bekämpfen, zieht sich das Zuständigkeitsdilemma von „oben“ konsequent auf alle Hierarchieebenen durch. Hinzu kommt, dass es eine Frage der Unternehmenskultur ist, wie die bereichs- und hierarchieübergreifende Zusammenarbeit gestaltet wird. Der Kampf um die Deutungshoheit der Marke verhindert aber das kooperative Zusammenarbeiten im Sinne der Marke. Mit harten Konsequenzen für das Markenerlebnis der Kunden, denn die haben ein sensibles Gespür dafür, wenn es hinter der Markenfassade hakt. Sie erkennen schnell, wie im Beispiel des Mobilfunkers O2, wenn Werbung und Vertrieb mit markigen Worten den Absatz ankurbeln und die erlebte die Wirklichkeit dem Anspruch hinterherhinkt.
Fachbereiche vernetzen – Vertriebsstrategie vom „Push“ zum „Pull“ umschalten
Die Zauberformel heißt crossfunktionale Vernetzung: Doch leichter gesagt als getan. Grundvoraussetzung: Ein gemeinsames Ziel entwickeln und unternehmensinterne Fachbereiche vernetzen. Crossfunktionale Arbeitsteams aus Unternehmensstrategie, Branding, operativem Marketing, Vertrieb und Produktentwicklung sollten zusammen die Aktionsfelder, Verantwortlichkeiten und Maßnahmen für die Aktivierung der Markenstrategie entwickeln. Im Fokus sollte die Markenstrategie stehen. Sie ist der Schlüssel, um die „Silos“ in alle Richtungen zu öffnen. Insbesondere die Rolle des Vertriebs gilt es zu ändern. Entscheidend dabei ist, die Vertriebsstrategie vom „Push“ zum „Pull“ umzuschalten. Heißt: den Kunden dort abholen, wo er bereits einen Wunsch verspürt und dafür „nur noch“ den richtigen Auslöser sucht. Marken die ihren Vertrieb so organisieren, treiben die Kunden nicht zum Kauf. Vielmehr antizipieren sie auf famose Weise den (Herden-) Trieb der Kunden, in dem sie ihre Lebenswelt verstehen und den Vertrieb direkt an die Wünsche, Träume, Bedürfnisse und Erwartungen andocken. Apple macht vor wie das geht. Die Rolle des Vertriebs liegt damit nicht mehr nur im Verkauf, sondern in der Gestaltung von Beziehungen. Dieser Job endet freilich nicht mit dem Bezahlvorgang des Kunden. Vielmehr liefern die nachgelagerten Aftersales-Aktvitäten der Kundenbetreuung – häufig als „Customer Care“ bezeichnet – entscheidende Impulse für die Kundenzufriedenheit. Denn die Rückmeldungen der Kunden zu etwaigen Problemen liefern wichtige Hinweise für zukünftige Produktentwicklungszyklen.
Die Herausforderung besteht darin, Markenversprechen und Markenerlebnis so kongruent wie möglich zu gestalten. Diese Aufgabe ist komplex und durch ein vergleichsweise einfaches Vorgehen zu lösen: Die Abschaffung von Schnittstellen. Die Marke machts möglich. Denn das „System Marke“ bietet einen Aktionsrahmen, auf den sich alle Partner im Unternehmen einigen und beziehen können. Strategie und Positionierung der Marke liefern die „Blaupause“ sowohl für die Vernetzung von Produktentwicklung, Kommunikation, Marketing (Presales), Vertrieb (Sales) und nachgelagerter Kundenbetreuung (Aftersales). Es kommt darauf an, einen innerbetrieblichen Prozess zu entwickeln, bei dem die Potenziale der Marke bereichsübergreifend aktiviert werden.
Sechs Bausteine der Markenaktivierung
> Crossfunktionale Relevanzuntersuchung: Wie kann der Kunde das Unternehmen als Marke ganzheitlich wahrnehmen, was ist dafür strategisch bedeutsam? Was ist relevant für das Kundenbedürfnis? Was ist relevant für die Markenbotschaft? Was ist relevant für den Vertrieb?
> Entwicklung des Pull-Index: Wo besteht Resonanz zwischen Kunde und Marke, die eine Anziehungskraft (Pull) erzeugen? Erhebung von Faktoren der Marke, die einen „Pull“ ermöglichen, ihn verstärken oder verhindern.
> Crossfunktionale Markenaktivierung: Initiieren eines crossfunktionalen Arbeitsteams aus Unternehmensstrategie, Branding, operatives Marketing, Vertrieb und Produktentwicklung. Das Team erarbeitet Aktionsfelder, Verantwortlichkeiten und Maßnahmen für die Aktivierung der Markenstrategie mit Blick auf die Gesamtperformance der Marke.
> Crossfunktionale Markenverankerung: Nachhaltiges und konsistentes Verankern der Marke durch Übergabe / Übernahme von Verantwortung durch jeden Mitarbeiter. Was wird dafür wo gebraucht – und wann? Welche Kompetenzen, Funktionen und Prozesse unterstützen oder verhindern das?
> Vertriebsorientierte Markenführung: Entwicklung von Vertriebsleitfäden auf Basis aktueller Marketingkampagnen. Welche Kundenbedürfnisse stehen hinter den Markenbotschaften der Kampagne? Welche Vertriebsargumente lassen sich aus der Kampagne ableiten?
> Markenorientierte Vertriebsunterstützung: Entwicklung und Umsetzung markenorientierter Vertriebstrainings, die auf „Pull“ statt auf „Push“ zielen.
Von Hans-Ulrich Cyriax
Veröffentlicht in der Zeitschrift „Horizont“ am 10.Mai 2012
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Der Autor: Hans-Ulrich Cyriax ist Geschäftsführender Partner der Cyriax Strategie- und Markenberatung. Er berät seit über 15 Jahren Unternehmen bei der strategischen Positionierung und war u.a. Leiter des Strategischen Marketing der Dresdner Bank.