Die Digitalisierung der Kommunikation treibt die Marketer börsennotierter Unternehmen in Deutschland um. Vermeintliche Mega-Themen wie Big Data, die Analyseverfahren für unüberschaubare Datenmengen, rangieren auf ihrer Agenda noch unter ferner liefen. Das geht aus dem HORIZONT-Marketingcheck hervor, für den erstmals Unternehmen aus Dax 30, Tec-Dax, S-Dax und M-Dax zur Tagesordnung ihres Marketings befragt wurden. Hans-Ulrich Cyriax erläutert im Interview mit HORIZONT aktuelle und künftige Herausforderungen des Marketings in Deutschland.
Horizont: Die Forderung an das Marketing, seinen Beitrag zum Unternehmenserfolg nachzuweisen, ist ein Dauerbrenner. Fragt man die Unternehmen, so nennen sie meist mehrere Messgrößen, die bei ihnen parallel zum Einsatz kommen von Kontaktzahlen über Neukundengewinnung bis zu ROI-Kennzahlen. Wo liegt dann das Problem? Zumal sich die Befragten von Controlling und Einkauf weitestgehend unabhängig fühlen.
Cyriax: Viele Unternehmen funktionieren als „Silos“ mit unterschiedlichen Interessen und Interessensvertretern sowie unterschiedlichen Denk- und Erfahrungshintergründen. Das Marketing befindet sich häufig zwischen den Grabenkämpfen dieser Interessensgruppen, was sich auch an der Verschiedenartigkeit der Messmethoden zum Marketingerfolg zeigt.
Zudem gibt es in DAX-Konzernen meist mehr Markforschung, als die Organisation „verarbeiten“ kann: Marketing konzentriert sich etwa auf Image- und Brand Performance-Analysen oder misst die Abriebe entlang der Wertschöpfungskette im Brand Funnel. Produktentwicklung und Vertrieb erheben regelmäßig Produkt- und Verkaufserlebnis, Kundenzufriedenheit, Kundenloyalität, Qualitätsempfinden oder die Weiterempfehlungsbereitschaft. Hinzu kommen regelmäßige Studien zur Messung des Markenwerts, deren Ergebnisse nett anzuschauen sind und für medial inszenierte Rankings taugen. Für das operative Tagesgeschäft sind sie meist nutzlos.Das Problem: All diese Studien werden a) nicht miteinander vernetzt, b) intern meistens isoliert voneinander ausgewertet und c) nicht handlungsrelevant als Instrument zur Optimierung und Veränderung eingesetzt. Hauptsache man hat Zahlen, die im Zweifelsfall zur Rechtfertigung der eigenen Fähigkeit oder Unfähigkeit herangezogen werden können.
Die Lösung: 1.) Weniger statt mehr: Unternehmen sollten ihre Marktforschungsaktivitäten konzentrieren. 2.) Vernetzt statt isoliert: Unternehmen sollten systemisch vorgehen und die Silomentalität Ihrer Bereiche aufsprengen. 3.) Strategisch statt kurzfristig: Unternehmen sollten eine Messmethodik wählen, die sich an ihren strategischen Zielen ausrichtet. 4.) Ganzheitlich statt punktuell: Unternehmen sollten methodisch drei Faktoren miteinander kombinieren: Wahrnehmung, Erlebnis und Zufriedenheit. 5.) Handlungsrelevant statt zahlenorientiert: Unternehmen sollten die Erkenntnisse aus der Markforschung konsequenter nutzen, um zu lernen und ihre Strategie anzupassen.
Der Umfrage zufolge sind Digitalisierung und Kundenbindung auch künftig die großen Themen des Marketings? Derzeit diskutierte Felder wie Big Data und Werberegulierung sind es nicht. Worin liegt dieser Fokus auf die Kundenansprache über neue Medien begründet?
Cyriax: Unternehmen spüren instinktiv, dass die Zukunft digitaler wird. Für viele DAX-Unternehmen ist jedoch die gezielte Kundenansprache über neue Medien noch ein Experimentier- und Lernfeld, mit dem sie sich schwer tun. Dabei belegen Untersuchungen, dass beispielsweise der digitale Handel weltweit inzwischen auf einen Anteil von 15 bis 20 Prozent am gesamten Handelsvolumen zusteuert. Unternehmen wie Amazon zeigen, wie man damit inzwischen auch nachhaltig profitabel sein kann. Gleichzeitig wollen rund vier von fünf Konsumenten beim Kauf eines Produktes nicht auf eine Beratung verzichten. Vor allem bei komplexen Produkten oder Dienstleistungen sowie bei älteren Zielgruppen ist Beratung die Voraussetzung für eine Kaufentscheidung. Doch auch Beratung muss nicht immer zwingend in einem Ladengeschäft erfolgen. Auch hier gibt es mittlerweile dutzende digitale Ratgeber- oder Vergleichsportale oder Beratungsangebote über soziale Netzwerke.
Die Zukunft liegt wahrscheinlich in der „goldenen Mitte“ zwischen digitalen und persönlichen Angeboten, zwischen schnellen und effizienten Lösungen sowie traditionellen Entscheidungsprozesse. Das Marketing in Unternehmen wie auch externe Marketingdienstleister sind heute jedoch vielfach noch zu innovationsscheu. Im Experimentieren liegen die Chancen. Adidas zeigt beispielsweise was möglich ist: Über das Internet kann sich der Kunde seinen Lieblingsschuh personalisieren. Über Co-Creating lassen sich Kunden so auf ganz neue Weise binden. Digital und doch persönlich.
3. Wenn es darum geht, wer oder was Einfluss auf das Marketing nimmt, zählen zu den Faktoren, auf die reagiert werden muss, wie erwartet die Wettbewerbssituation und technische Innovationen. Das Thema Nachhaltigkeit beispielsweise, eine intern zu beeinflussende Unternehmensgröße, zählt nicht dazu. Wie würden Sie die fehlende Zuwendung zu diesem Thema erklären?
Cyriax: Der Begriff Nachhaltigkeit verfügt über soziales Kapital und Status. Die Gesellschaft fordert und belohnt nachhaltiges Handeln und sanktioniert und bestraft nicht nachhaltiges Handeln. Viele Unternehmen wollen nachhaltig sein, sie wollen auf facebook gefallen und dem Kunden ein gutes Gewissen geben. Sie kratzen jedoch heute zumeist nur an der Oberfläche der Nachhaltigkeit und sehen darin ein Trendthema, mit dem sie über Kommunikation und Marketing ihr Unternehmensprofil zeitgemäß aufpolieren können. Sie sollten lernen, dass Nachhaltigkeit kein Marketingthema ist, so lange es an Substanz fehlt.
Nachhaltigkeit kommt nicht über Nacht, sondern ist vielmehr ein organisationaler Lernprozess. Voraussetzung dafür ist erstens, dass Nachhaltigkeit als Geschäftsprinzip in der Geschäftsstrategie verankert ist. Zweitens sollte Nachhaltigkeit als Wertesystem das Handeln der Mitarbeiter bestimmen und sie zu den Prinzipien von Fairness, Transparenz, Respekt, Gegenseitigkeit, Freiheit und Vertrauen verpflichten. Beispiel KfW Bankengruppe: Die Staatsbank hat ihr gesamtes Produktportfolio konsequent nach Nachhaltigkeitskriterien ausgerichtet, die sie aus vier Megatrends abgeleitet hat. Mehr noch: Die Mitarbeiter stehen hinter der Bank, gerade weil das Grundprinzip des Geschäftsmodells auf Verlässlichkeit und langfristigem Engagement zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen beruht. Deshalb ist auch die Positionierung „Bank aus Verantwortung“ glaubwürdig und das Marketing muss kein schlechtes Gewissen haben, wenn es nachhaltige Themen setzt.
4. Auch auf die Entwicklung von Produkten nimmt das Marketing offenbar relativ wenig Einfluss. Die Frage liegt – auch angesichts der vorangehenden – nahe: Welchen Einfluss hat das Marketing selbst überhaupt? Ist es nur eine operative Einheit? Wo wird Marketing als Führungskonzeption erlebbar?
Cyriax: Vor allem Konsumgüterhersteller wissen: Marketing entscheidet wesentlich über wirtschaftlichen Erfolg und Wachstum. Marketing bei FMCG-Champions ist mehr als Kampagnenmanagement, nämlich: Marken gezielt aufbauen und Markenportfolios konzentrieren, Innovationen entwickeln und neue Produkte launchen, sich vom Wettbewerb differenzieren und Kunden direkt ansprechen aber auch Kosten kontrollieren und Preise steuern. Wenn Marketing konsequent in die Wertschöpfungskette integriert ist, hat es einen erheblichen Einfluss auf den Unternehmenserfolg. Realität ist jedoch häufig, dass das Marketing in linearen Unternehmensprozessen lediglich am Ende der Kette bei der Vermarktung eine Rolle spielt. Ein Fehler, denn Marketing gehört an den Tisch der Geschäftsführung und sollte von der Produktentwicklung, über Kampagnen- und Kommunikationsmanagement, bis hin zum Sales- und After-Sales eine wichtige Rolle spielen.
5. Wie wichtig ist es für das Marketing im Vorstand eines Unternehmens vertreten zu sein oder zumindest einen direkten Draht zum CEO zu haben? Nach wie vor ist das ja in vielen Unternehmen nicht der Fall.
Cyriax: Deutsche Top-Unternehmen haben erheblichen Nachholbedarf bei der Besetzung und Etablierung von Chief Marketing Positionen (CMO) mit direkter Berichtlinie zum Vorstand. Im Gegensatz zu amerikanischen Unternehmen, wo Marketing generell einen höheren Stellenwert genießt, sind in Deutschland meist die Funktionen Marktforschung und Strategieentwicklung, Markenführung und Kommunikation, Produkt- und Preispolitik sowie Distribution organisatorisch zersplittert. Hierzulande trifft man häufig auf CMOs, die an die Leitung der Unternehmenskommunikation berichten und in ihrer Arbeit den Fokus auf Marke und Werbung legen.
Hinzu kommt, dass trotz hinreichender Marktforschung, über die die Effektivität und Effizienz von Marketingaktivitäten solide nachweisbar sind, die Vertreter der Marketingfunktion von operativen Fachvorständen häufig nachrangig behandelt, manchmal sogar argwöhnisch betrachtet werden. Das mag daran liegen, dass zum Marketing fast jeder eine Meinung hat und man so der Auffassung ist, auch fachlich mitreden zu können. Umso bedeutsamer ist es in einer modernen Organisation, das eine fundierte Marketingstrategie durch eine im Marketing versierte, kommunikativ starke und integrativ wirkende Führungspersönlichkeit vertreten wird. Manager von diesem Format sind allerdings selten.
Um die Marketingfunktion fachlich-organisatorisch schlagkräftiger aufzustellen erscheinen darüber hinaus drei Faktoren wichtig:
- Die Erteilung eines klaren Mandates durch den Vorstand zur Sicherung der Kooperationsbereitschaft der Geschäftsbereiche und Querfunktionen.
- Die Auswahl von operativen Marketingmanagern nach ihrer Fähigkeit fakten- und argumentbasierte (vs. rein kompromissbasierte) Konsensentscheidungen herbeizuführen. Dieses ist umso wichtiger, als in Diskussionen über Marken- und Marketingthemen es den Beteiligten häufig schwer fällt, vom persönlichen Geschmack zu abstrahieren.
- Die Ausstattung der Funktion mit der Methoden- und teilweise Durchführungsverantwortung für die Aufbereitung und Analyse markenrelevanter Fakten (z.B. Marktforschung, Trendanalyse, Kundenzufriedenheitsanalyse, etc.)
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Die Wirtschaftswoche hat das Thema aus HORIZONT aufgenommen und schreibt in ihrer Marketingkolumne, dass falsch eingesetztes Marketing die Bilanzen belastet und die Marke schädigt. Zudem wird konstatiert, dass Marketing nur selten in der obersten Führungsetage der Unternehmen angesiedelt sei. Hierzu wird Hans-Ulrich Cyriax zitiert: „Marketing gehört an den Tisch der Geschäftsführung und sollte von der Produktentwicklung über Kampagnenmanagement bis hin zu Sales und After Sales eine wichtige Rolle spielen“. Die vollständige Kolumne „Die Marketinglüge“ lesen Sie hier